Februar 2016 - April 2017
In Deutschland leben ca. drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Aus Repräsentativbefragungen ist bekannt, dass diese Bevölkerungsgruppe eine besondere Affinität zum Glücksspiel hat und insbesondere solche Spielformen favorisiert, die ein erhöhtes Abhängigkeitsrisiko beinhalten (Sportwetten, Kasinospiele, Automatenspiele). So kommt eine Auswertung aus dem Jahr 2011 auf einen Anteil von 16,4% Sportwettenden und 12,2% Automatenspielenden (12-Monatsprävalenz) unter den türkeistämmigen Migranten/innen, gegenüber Anteilen von 4,2% und 4,1% unter der deutschstämmigen Bevölkerung (Kastirke et al., 2016). Entsprechend findet sich ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Spielenden mit einem pathologischen Spielverhalten unter den Türkeistämmigen (Kreuzer et al., 2011). Dieser wird in der schon genannten Studie mit 4,0% angegeben (Deutsch: 0,7%; Kastirke et al., 2016). Gleichzeitig verweisen die Ergebnisse empirischer Studien darauf, dass die Raten der Inanspruchnahme von Hilfeangeboten sowie die Erfolgsquoten begonnener therapeutischer Maßnahmen reduziert sind (Bischof et al., 2015). Welche Faktoren hierfür verantwortlich sind, ist bisher nur unzureichend untersucht worden. Befunde aus der Praxis, u.a. Tuncay (2012) legen nahe, dass neben soziokulturellen Charakteristika (etwa in den Domänen Gender, Sprache, Familie und Religion) insbesondere abweichende, kulturell geprägte Krankheitskonzepte diesbezüglich eine bedeutsame Rolle spielen (Franz et al., 2007).
Mit der vorliegenden Studie soll ein Beitrag dafür geleistet werden, diese Forschungslücken zu schließen. Im Einzelnen werden die Ursachen des vermehrten Auftretens von Glücksspielproblemen bei türkeistämmigen Migranten/innen untersucht, Barrieren der Inanspruchnahme von Hilfen identifiziert und Unterstützungsbedarfe aufgezeigt. Daraus werden empirisch fundierte Empfehlungen für die Praxis abgeleitet, wie türkische Migranten/innen mit Glücksspielproblemen zukünftig besser erreicht und bedarfsgerecht unterstützt werden können.
Das Gesamtprojekt gliedert sich in mehrere Teilprojekte (TP) auf: TP 1 beinhaltete leitfadengestützte Interviews von neun Experten/innen, in TP 2 wurde eine qualitative Befragung (leitfadengestützt) von acht türkeistämmigen Personen mit früheren oder aktuellen glücksspielbedingten Problemen durchgeführt und TP3 umfasste eine quantitative Befragung von 81 jemals im Leben pathologisch spielenden türkeistämmigen Personen (PGS) und 80 türkeistämmigen Befragten ohne Spielprobleme (BOS), deren Befunde im Zuge der Auswertung einander gegenübergestellt wurden. Abschließend fand ein Expertenworkshop statt, in welchem die Ergebnisse der drei TPs diskutiert und Empfehlungen für Prävention und Hilfe formuliert worden sind.
Die Auswertung der aufgezeichneten und wörtlich transkribierten Interviews (TP 1 & 2) erfolgten als qualitative Inhaltsanalyse mit induktiver Kategorienbildung nach einer etablierten und regelgeleiteten Methodik (Mayring, 2010).
Die Befragten von Teilprojekt 3 sind mittels verschiedener Zugänge rekrutiert worden. So wurden Klienten der interviewten Experten/innen, Personen aus dem erweiterten Bekanntenkreis der interviewten Experten/innen und Spieler, Personen aus dem erweiterten Bekanntenkreis der studentischen Hilfskräfte und Teilnehmer einer Männergruppe in Berlin befragt. Des Weiteren erfolgte eine Ansprache von Personen in türkischen Imbissen in Hamburg.
Die Auswahl der Befragten in Teilprojekt 3 ohne Glücksspielprobleme wurde in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der von einem pathologischen Spielverhalten betroffenen Befragten hinsichtlich Alter und Schulbildung vorgenommen.
Es liegen bei den PGS sehr häufig gravierende migrationsspezifische Risikofaktoren (insb. defizitäre soziale Teilhabe, niedriger sozialer Status, schlechte Sprachkenntnisse) sowie kulturspezifische soziale Problemkonstellationen (insb. Normenkonflikte innerhalb der Familie) vor.
Es zeigt sich eine hohe Bedeutung von sozialen Motiven des Spielens (z.B. Freunde treffen) sowie des maladaptiven Copings (Glücksspiel als Ablenkung bzw. Unterdrückung von negativen Gefühlen und Flucht vor Alltagsproblemen).
Türkeistämmige bevorzugen Glücksspiele mit einem höheren Gefährdungspotential, insbesondere Automatenspiele und terrestrische Sportwettangebote. Gleichzeitig glaubt bis zu einem Drittel der PGS, dass sowohl die Automatenspiele wie auch die Sportwetten nicht zu einer Abhängigkeit führen können. Die Gewinnmöglichkeiten dieser Spielformen werden überschätzt.
Fast ein Fünftel der Gruppe der PGS benennt als Zuwanderungsgrund die Eheschließung mit einer in Deutschland lebenden Partnerin. Viele dieser Personen verfügen über keine Berufsausbildung und fast die Hälfte von ihnen ist nur in Teilzeit oder gar nicht beruflich tätig.
Nur etwas mehr als die Hälfte der PGS bewertet die eigenen Deutschkenntnisse in Bezug auf das Verstehen und das Lesen als gut. Hinsichtlich des Schreibens beträgt der entsprechende Anteil nochmals geringere 46%. In der Vergleichsgruppe der BOS liegen die entsprechenden Anteilswerte jeweils etwa 20 Prozentpunkte darüber.
Die Hälfte der PGS gibt an, drei oder weniger türkische Freunde zu haben, während in der Gruppe der BOS der entsprechende Wert bei fünf Freunden liegt. Enge Freundschaften (Kankas / Blutsbrüder) finden sich bei den PGS kaum. In Bezug auf deutsche Freunde (womöglich aus Scham wg. schlechter Deutschkenntnisse) zeigen sich ähnliche Unterschiede zwischen PGS und BOS.
Die Hinwendung zur Hilfe erscheint erst sehr spät zu erfolgen, etwa wenn die Existenz der Familie auf dem Spiel steht oder gravierende Ereignisse wie Suizidversuche aufgetreten sind.
Fast zwei Drittel geben an, dass ein Grund für die verzögerte bzw. nicht vollzogene Inanspruchnahme von Hilfe in der eigenen Selbstüberschätzung bzw. der Verleugnung der Spielproblematik bestand.
Ein erheblicher Anteil der Betroffenen äußert die Befürchtung, durch die Hinwendung zu Hilfemaßnahmen eine Stigmatisierung zu erfahren. Hinzu kommen Wissens- und Kommunikationsdefizite.
Es bestehen erhebliche Informationsdefizite hinsichtlich der Gewinnwahrscheinlichkeit der Spielformen, der Bewertung einer Sucht als psychische Erkrankung, des Suchtpotenzials der Spielangebote sowie Form und Inhalt bestehender Hilfeangebote.
Es bestehen bei vielen Befragten Ängste dahingehend, dass die Inanspruchnahme von Hilfe zu negativen Konsequenzen führen könnte, da angenommen wird, dass Inhalte von Beratungs- oder Therapiegesprächen an Behörden, Arbeitgeber oder die Polizei weitergegeben werden.
Glücksspielprobleme werden mehrheitlich als Ausdruck einer Charakterschwäche angesehen und Hilfeangeboten wird eine nur geringe Bedeutung zuerkannt.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass Kenntnisse der deutschen Sprache häufig nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind und dies wahrscheinlich vermittelt über Schamgefühle und eine (auch) hierauf zurückzuführende soziale Isolation zu einem Entstehen von glücksspielbedingten Problemen beiträgt. Ein quantitativer wie qualitativer Ausbau von Angeboten zur Sprachförderung erscheint somit dringend geboten.
Es sind vorrangig die Automatenspiele und die terrestrischen Sportwettangebote, die von vielen Betroffenen für die Entstehung der eigenen Spielprobleme von hoher Relevanz waren. Zukünftige Präventionsmaßnahmen sollten somit vorrangig in den Spielhallen und den Sportwettbüros ansetzen.
Es sind Maßnahmen notwendig, die in der türkeistämmigen Bevölkerung dazu beitragen, die Angebote professioneller Hilfe zu entstigmatisieren. Türkischsprechende Berater und Therapeuten dürften erheblich dazu beitragen, dass der Zugang erleichtert und Vorbehalte der betroffenen Spieler wie Angehörigen abgebaut werden. Hierfür bedarf es einer besonderen Förderung der Ausbildung von türkeistämmigen Fachkräften.
Insgesamt zeigt sich eine große Aufgeschlossenheit gegenüber Prävention und Spielerschutz. Dies betrifft auch solche Orte, Personen bzw. Institutionen, die eng mit der Herkunftskultur verknüpft sind, so z.B. die religiösen Einrichtungen, die Kulturvereine, die türkischen Restaurants und Zeitungen. Aufgrund der erheblichen Wissensdefizite und Fehlannahmen dieser Klientel ist die (Weiter-)Entwicklung und Etablierung von zielgruppenspezifischen präventiven Maßnahmen dringend erforderlich.
Der vorliegende Bericht stellt die Ergebnisse der Befragungen dar und kann hier heruntergeladen werden.